Per Anhalter durch die Turing-Galaxis

FB8-Workshop 2011: Whistleblower

»Put the Wiki back in WikiLeaks«

Ethische Betrachtungen zu WikiLeaks und anderen Whistleblowingplattformen.

Arbeitsergebnis des Workshops der Fachgruppe »Informatik und Ethik« der Gesellschaft für Informatik. (http://gewissensbits.gi.de/iug2011/)

Vorbemerkung

Zivilcourage, also der Mut, das eigene Handeln in den Dienst der Gesellschaft zu stellen, treibt den sogenannten Whistleblower an. Er ist ein Hinweisgeber in öffentlicher Sache und muß im Konfliktfall auch gegen seine im Privaten ausgehandelten Absprachen verstoßen, um auf Mißstände hinzuweisen, die die politische Gemeinschaft bedrohen könnten. Die Konsequenzen dieses Vertragsbruches sind vielfältig und reichen von sozialer Ächtung bis hin zur Bedrohung der Existenz. Da es keinen gesetzlichen Informatenschutz oder gar ein Whistleblowing-Gebot gibt, sind sie auf die Wahrung ihres Inkognitos angewiesen, da sie das positive Recht nicht schützen kann.

An erster Stelle eines Anforderungskatalogs an eine Whistleblowingplattform muß also stehen, wie sichergestellt werden kann, daß die Anonymität des Hinweisgebers unbedingt gewahrt werden kann; eine vorwiegend technische Frage, die allerdings erhebliche politische Dimensionen besitzt (Netzneutralität, Vorratsdatenspeicherung, Staatstrojaner).

Des weiteren muß dafür Sorge getragen werden, daß sich das Risiko der Informationsbeschaffung insofern gelohnt hat, als daß die brisante Enthüllung schlußendlich auch öffentlich zugänglich gemacht wird. Der freie Zugang zu dem beschafften Original-Material ist zudem Voraussetzung dafür, unabhängige Bewertungen des Inhalts vornehmen zu können.

Auf der anderen Seite stehen die von einer Veröffentlichung der Daten betroffenen Personen, sie genießen selbstverständlich auch dann Persönlichkeits- und Freiheitsrechte, wenn sich im Nachhinein herausstellt, daß sie sich eines Verbrechens schuldig gemacht haben. Die Wahrung der Menschenwürde und der Privatheit der in den Enthüllungen erwähnten Personen ist der Hauptgegenstand einer ethisch-moralischen Reflektion der Plattformbetreiber. Diese Abwägung kann nur gemeinschaftlich getroffen werden und hierzu werden Moralkodices benötigt, die zuvor gesellschaftlich ausgehandelt wurden.

Analyse und Handlungsempfehlung.

Im Workshop sind wir kontrafaktisch davon ausgegangen, daß es eine bekannte und funktionierende Whistleblowingplattform gibt. Deren Betreiber sind in der Lage, unsere ethischen Leitlinien technisch zu erfüllen. Hinsichtlich einer ethischen Betrachtung haben wir im Workshop unterscheiden: Das existentielle Interesse der Whistleblower, das Öffentliche Interesse sowie die Persönlichkeitsinteressen der von einer (Nicht-)Veröffentlichung Betroffenen.

I    Existentielles Interesse der Whistleblower

Ein Whistleblower ist nicht selten ein Geheimnisträger, der aufgrund seiner Gewissensentscheidung sein fremdverordnetes Schweigen brechen muß. Dies kann erhebliche Konsequenzen nach sich ziehen, wie eingangs schon erwähnt worden ist. Die Wahrung seiner Anonymität auch gegenüber den Betreibern einer Whistleblowingplattform muß nicht zuletzt technisch sichergestellt werden. Die Betreiber widerum müssen eine Quellenbewertung vornehmen können, was im Einzelfall sicher schwierig ist, wenn die Quelle nicht bekannt ist. Daher schlagen die Workshopteilnehmer vor, eine Abstufung einzuführen: der Informant soll selbst entscheiden können, wie viel er von seiner Identität preisgeben möchte.

Es ist risikoreich, brisante, geheim gehaltene Informationen zu beschaffen. Eine Veröffentlichung des so beschafften Materials ist daher eine wohlüberlegte und erwünschte Handlung. Die Plattform sollte irgendeine Art von Rückmeldung geben, daß diese Daten im Begriff sind, prominent publiziert zu werden.

Eine reine Online-Plattform ohne feste Anschrift verfügt nur über einen Kanal zur Übermittlung sensibler Informationen. Gerade in Staaten, die intensive Bürgerüberwachung betreiben oder sich ganz der Sammelwut privater Unternehmen ausliefern, kann der anonyme Onlinezugang nicht garantiert werden. Die Plattform muß die Informationen sowohl in digitaler als auch in analoger Form entgegennehmen können.

Der Aufmerksamkeitshorizont der Berichterstattung liegt (bekannter- und beklagenderweise) eher im Tages- oder Wochenbereich, wohingegen die Auswirkungen beispielsweise einer korrupten Regierung oder einer illegalen Geheimdienstaktivität eher im Jahres- oder gar Dekadenbereich zu messen sind. Die Persistenz der Daten muß gewährleistet sein.

II    Persönlichkeitsschutz der Betroffenen

Alle Personen, auch die des öffentlichen Lebens, genießen ein verbürgtes Recht auf Privatheit. Die Privatheit der von einer Veröffentlichung betroffenen Personen muß gewährleistet sein.

Werden Aussagen oder Fakten aus dem Zusammenhang zerissen, können falsche Eindrücke entstehen. Den Betroffenen muß daher die Möglichkeit gegeben werden, sich mit einer Gegendarstellung äußern zu können, die ebenso prominent auf der Plattform vertreten sein muß.

Die Gefahr besteht, daß eine solche Whistleblowingplattform zu einem Internetpranger verkommt, so daß im Einzelfall eine Vorverurteilung der im Bericht erwähnten Akteuren vorgenommen wird. Analog zu unserer Rechtsprechung muß es eine Art der digitalen Rehabilitation geben.

Wir haben im Workshop auch Szenarien diskutiert, in denen die unter I formulierten Interessen denen der Betroffenen entgegenstehen. Etwa solche, in denen Betroffene als Kronzeugen angeführt werden, ohne daß sie dies auch wollen. Der Whistleblower müßte sich in so einem Fall also von den Betroffenen das Einverständnis zur Publikation einholen.

Ein weiteres Problem besteht im Bereich der juridischen Verantwortung, etwa, wenn Betroffene die Betreiber einer Whistleblowingplattform anzeigen. Die Betroffenen müssen wissen, an wen sie sich im Falle einer nicht von ihnen genehmigten Veröffentlichung wenden können.

III    Öffentliches Interesse

Die interessierte Öffentlichkeit erwartet von einer Whistleblowingplattform vor allem Transparenz und Nachvollziehbarkeit. Dazu gehört an erster Stelle die Veröffentlichung der zugespielten Information ohne redaktionelle Filterung.

Der Kontext der Information ist zwar für das Verständnis notwendig, er muß aber nicht von den Plattformbetreibern selbst mitgeliefert werden. Etablierte Medien, wie etwa die Presse oder der Rundfunk, können die Einordnung vornehmen und die Roh-Information interpretieren. Eine Whistleblowingplattform dient der Unterstützung der Presse und des Rundfunks und zwingt diese gleichsam, sich mit dem Thema auch tatsächlich zu beschäftigen.

Gerade der seit einigen Jahrzehnten verwendete Begriff des »data journalism« zeigt, wie wichtig digitale, durchsuchbare (Roh-)Daten und deren Verfügbarkeit inzwischen geworden ist.

Im Workshop haben wir auch Ansprüche der interessierten Öffentlichkeit festgestellt, die von den Plattformbetreibern so nicht erfüllt werden können, da sie sonst im Widerspruch zu den unter I oder II formulierten Prinzipien handeln müssten. Dazu zählen die Offenlegung der Quelle zur Überprüfung der Authentizität oder die unbedingte Forderung nach Roh-Daten ohne Schwärzung von Namen der Betroffenen.

Fazit

Einig waren sich alle Workshopteilnehmer darin, daß es (mindestens) eine transparente, unabhängige Whistleblowingplattform geben muß, die einen so großen Bekanntheitsgrad erlangt hat, daß Veröffentlichungen auch weltweit wahrgenommen werden.

Allein die Existenz einer solchen Institution garantiert, daß etablierte Medien ihre Funktion als »vierte Säule« auch tatsächlich wahrnehmen. Darüber hinaus bietet der Zugang zu ungefilterten Informationen und Roh-Daten auch für Bürgerjournalisten oder den relativ neuen Zweig der »data journalists« eine neue Qualität der Recherchemöglichkeit. Die Plattform stellt die Information bereit, die etablierte Medien oder Blogger interpretieren können.

Betrieben werden soll die Plattform von einem demokratisch gewählten Konsortium, das zumindest jährlich über die eingesandten Dokumente berichtet, auch (bzw. gerade) wenn diese nicht veröffentlicht wurden. Die Abwägung zwischen Persönlichkeitsrechten auf der einen Seite und dem Interesse der Öffentlichkeit auf dem anderen soll transparent festgehalten werden und auf Anfrage verfügbar sein.

Wie der Workshoptitel suggeriert, spielen dabei die Mechanismen der potentiell globalen, transnationalen Zusammenarbeit eine wichtige Rolle. Wir haben uns im Workshop auf die Bedingungen konzentriert, die notwendig für eine solche Zusammenarbeit sind (Rohdaten, Verfügbarkeit, Authentizität, Vertrauen). Planen können einige wenige, mitmachen müssen alle aufgeklärten Weltbürger: put the Wiki back in WikiLeaks!