Per Anhalter durch die Turing-Galaxis

Corinna Bath: „Diffractive Design“

Abstract

Der unten wiedergegebene Text ist ein Gedächtnisprotokoll eines Vortrags von Corinna Bath, in dem sie über ihr Habilitationsprojekt „Diffractive Design intelligenter Maschinen: Wie lässt sich die Modellierung des Humanen in der Informatik feministisch gestalten?“ sprach.

Darin vertrat sie die These, dass die Informatik eine Disziplin ist, in der es im Wesentlichen um die Modellierung des Humanen geht und damit stets auch Vergeschlechtlichungen der informatischen Artefakte verbunden ist. Diese These diente ihr als Grundlage zur Analyse informatischer Tätigkeit. Dahinter verbirgt sich auch die Frage: “Wie lässt sich die Vergeschlechtlichung informatischer Artefakte theoretisch fassen?”

Im ersten Teil zeigte sie mittels Fallstudien, bei denen die Betrachtung geistiger Bilder agierender Technikgestalter_innen über Nutzer_innen und Nutzung informatischer Artefakte im Vordergrund problematisiert werden, welchen Effekt die Vorstellungen über „den Menschen“ sowie epistem(ont)ologischen Grundannahmen bei der Modellierung von „Realität“ auf die Einschreibung stereotyper Geschlechterrollen in die informatischen Artefakte haben.

Im zweiten Teil ihrer Ausführungen zeigte sie anhand von Ansätzen aus dem „Critical Computing“ (z. B. Participatory Design, Reflective Design) Möglichkeiten und Grenzen, den angeführten Vergeschlechtlichungen entgegenzuwirken, um in einem dritten Punkt einen weiterführenden Ansatz, nämlich „Diffractive Design“, vorzustellen. Letzteres ist eine Technikgestaltungsmethode für die Informatik, die Prozesse der Modellierung des Humanen interferent (diffraktiv) und damit radikal interdisziplinär mit Geschlechterwissenschaft verknüpft. Inspiriert ist „Diffractive Design“ von Karen Barads ethico-epistem-ontologischen Konzept der Interferenz/Diffraktion. [Barad, 1999]

Corinna Bath ist Diplom-Mathematikerin und arbeitet derzeit im Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterforschung (ZIFG) der TU Berlin.

Ihre Arbeitsschwerpunkte sind:

  • Geschlechterforschung in der Informatik,
  • Feministische Wissenschafts- und Technikforschung, insbesondere in Bezug auf „intelligente“ (z. B. „emotionale“, „soziale“ und „semantische“) Technologien,
  • Feministische Theorie, Epistemologie und Ontologie,
  • Inter- und Transdisziplinarität.

Ihr aktuelles Forschungsprojekt ist „Diffractive Design intelligenter Maschinen: Wie lässt sich die Modellierung des Humanen in der Informatik feministisch gestalten?“ Dabei handelt es sich gleichzeitig um ihr Habilitationsprojekt.


Baths Vortrag war in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil stellte sie ihre These vor:

“Informatik ist eine Disziplin, die sich im Wesentlichen immer mit der Modellierung des Humanen beschäftigt.”

Mit dieser These geht einher, dass auch eine Vergeschlechtlichung informatischer Artefakte stattfinden muss.

Mit Blick auf die “I-methodology” [Oudshoorn, Rommes & Stienstra 2004], die besagt, dass Entwickler_innengruppen sich selbst als Repräsentanten der User_innen verstehen, übertrügen sich auch die eigenen Geschlechterstereotype durch den Modellierungsprozess auf das Artefakt. Die Frage danach, wie ein Produkt für jemanden di_e_r davon verschieden ist, entwickelt werden kann, stelle sich nicht.

In Baths Bezugssystem wird davon ausgegangen, dass an der Entwicklung informatischer Artefakte in der Regel homosozial männlich geprägte Gruppen, vornehmlich bestehend aus Softwareentwicklern, beteiligt sind. Indem sie sich selbst als potentielle Nutzer_innen vorstellen, genauer ihre Ansprüche, Ansichten und Bedürfnisse für repräsentativ, objektiv und allgemeingültig halten, werden männlich konnotierte Eigenschaften zu einem Teil der informatischen Artefakte und spiegeln sich darin wider. Siehe hierzu auch [van Oost 2003].

Um zu belegen, dass derartige Einschreibungen stattfinden, arbeitet Bath mit Fallstudien. Sie stellte in ihrem Vortrag exemplarisch frühe Textverarbeitungssysteme vor, denen solche einschlägigen Nutzer_innenbilder während des Entwicklungsprozesses zugrundegelegt wurden, und analysierte sie.

So beispielsweise der Textautomat, entwickelt für langjährige Sekretärinnen, deren Tätigkeitsprofile durch schlichtes Abtippen gekennzeichnet sind und denen lediglich ein minimaler Lernaufwand zugemutet werden kann.

Impliziert wurde, so Bath im Vortrag, auch ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber Nutzerinnen: So kam es, dass Dateien nicht gelöscht werden konnten, damit kein Schaden entstünde. Eine weitere Folge geschlechterstereotyper Annahmen bei der Entwicklung von Software waren langwierige Frage-Antwort-Dialoge: der sogenannte Verb-Noun Approach. Ebenso nahm man die ewige Anfängerin lange Zeit als Vorbild für eine weibliche Schreibkraft, die als technisch inkompetent eingestuft wurde.

WordStar 1979 und WordPerfect 1980 hingegen lägen ein Nutzerinnenbild einer technischen Expertin zugrunde. Daraus resultierte die hohe Anzahl an Shortcuts bei der Bedienung. [Hofmann 1997, 1999]

Wie also komme es zu einer Anthropomorphisierung informatischer Artefakte? Mit Anthropomorphisierung ist das Übertragen oder Projizieren menschlicher Eigenschaften auf informationstechnische Artefakte gemeint, wie beispielsweise das Konzept eines Softwareagenten, der die Nutzer_innen bei der Handhabung eines Programmes oder einer bestimmten Hardware unterstützen kann.

Bei der Anthropomorphisierung übertragen sich zum Teil Vorstellungen von Menschenähnlichkeit. So sind beispielsweise auch entlang klischeehafter Geschlechtervorstellungen das Blickverhalten männlicher bzw. weiblicher Softwareagenten unterschiedlich.

Die Sozialisation von Maschinen war bereits beim von Cynthia Breazeal entwickelten Kissmet-Roboter ein Thema. Hierbei entwickelt sie auch eine Caregiver-Infant-Relationship zum Roboter. Der Roboter sollte in der Folge Gefühle und Empathie erlernen. [Breazeal 2002, 2003]

Modelle von menschlichen Eigenschaften und Fähigkeiten finden sich vermehrt in verschiedenen Entwicklungslinien der KI-Forschung wieder. Hierbei fand ein Paradigmenwechsel von symbolorientierten hin zu biologisch und sozial inspirierten Ansätzen “sozialer” bzw. “emotionaler” Intelligenz statt.

Eine frühe philosophische und feministische Kritik an diesem Ansatz ist, dass die KI Embodiment, Situiertheit, das Soziale und Emotionen ignoriere. Heutzutage sind jedoch auch solche Konzepte integriert.

Im der KI zugrundeliegenden OCC-Modell der Emotionen [Ortony, Clore & Collins 1988] sind Agenten bestimmten Events ausgesetzt. Es findet eine Bewertung von Reizen unter bestimmten, konventionellen Regeln statt, daraus resultiert, dass:

  • traditionelle geschlechtsbeladene Muster aufrechterhalten und reaktiviert werden,
  • hierarchische Subjekt-Objekt-Relationen reproduziert werden,
  • der Dualismus privat-öffentlich aufrechterhalten wird.

Modellierungsansätze in der Informatik

Um die Eingangsfrage danach, wie diese Einschreibungen theoretisch zu fassen wären, zu beantworten, beleuchtete Bath verschiedene Vorgehensmodelle der Softwareentwicklung.

Hierbei arbeitete sie in ihrem Habilitationsprojekt historisch und betrachtete die Entwicklung vom Wasserfallmodell (V-Modell, um 1970), Spiralmodell (um 1970), Unified Software Development Process (USDP, Mitte bis Ende der 1990er Jahre) bis hin zu Object-oriented Programming (OOP) und stellte fest, dass stets Use-cases die Modellierung bestimmten.

Sie konzentrierte sich in ihrem Vortrag, gestützt auf die Arbeit Crutzens und Gerrissens [Crutzen, Gerrissen 2000], auf den objektorientierten Softwareentwurf und stellte einige problematische Grundannahmen heraus:

  • Es würde davon ausgegangen, es gäbe keine Unterschiede in den Weltsichten der Entwickler_innen und User_innen.
  • Alles und jede_r könne als Objekt repräsentiert werden.
  • Es gäbe eine allgemeine Sprache, die von allen gleich verstanden werden kann.

Feministische Kritiken an OO-Analyse und -Entwurf seien ebenfalls, wie eingehend erwähnt,

  • die vermeintliche Abwesenheit von Geschlecht durch Geschlechtsneutralisierung bzw. Verallgemeinerung einer männlich gefärbten Perspektive,
  • allgemein die Hierarchisierung von Objekten über Vererbung als Reproduktion/Reinstantiierung von Herrschaftsstrukturen.
  • Zwischenmenschliche Interaktionen und soziale Prozesse sind in UML nicht repräsentierbar, weil von Sozialität etc. abstrahiert wird. In der Folge findet keine Abbildung dieser Prozesse statt.

Kritische Ansätze bei Methoden der Softwareentwicklung

Wie also könnte diesen und anderen Problemen entwicklungsprozessbegleitend begegnet werden?

Angeregt durch historische Methodendebatten, die im Zusammenhang mit der Softwarekrise 1968 standen, als Folge davon, dass kein Matching von (Software-) Bedienbarkeit mit den Bedürfnissen der User_innen stattfand, und die gefolgt wurde durch eine Selbstverständnis- und einer Technikverständnisdebatte 1990, konnten in der Vergangenheit bereits folgende Forderungen für eine sozio-technische Systemgestaltung festgelegt werden:

  • Ziel sollte sein, humane Arbeitssysteme zu entwickeln. 1980 wurden diese auch durch die Arbeitspsychologie auf die Informatik übertragen.
  • Technische und soziale Systeme sollten künftig gemeinschaftlich optimiert werden.
  • Systematische und methodisch fundierte Anforderungsanalysen des Anwendungsgebiets sollten zusammen mit den Nutzer_innen erstellt werden.

In diesem Zusammengang erwähnte Bath während des Vortrages das Participatory Design, das in den 1960er und 1970er in den Gewerkschaften skandinavischer Ländern zu verorten sei. Siehe dazu [Bødker 1996].

Es fordere alle Beteiligten auf, aktiv mit Entwickler_innen, Forscher_innen sowie Umsetzenden während des gesamten Entstehungprozesses eines Produktes zusammenzuarbeiten, um so möglichst viele der eigenen Bedürfnisse auf das Endprodukt übertragen zu können.

Trotz lauter Rufe nach Zusammenarbeit, fanden in den Unternehmen die Zusammenkünfte zumeist nach Positionen getrennt statt. Es trafen sich Arbeiter und Management in getrennten Sitzungen, um ihre Beiträge zu erarbeiten.

Als Resultat blieben Interessenskonflikte zwischen Management und Arbeitenden zurück, die geprägt waren von den Forderungen nach:

  • Kritik an Rationalisierung von Arbeit und Dequalifikation,
  • herrschaftskritischer Orientierung der Unternehmen,
  • durch Technikgestaltungsprozesse emanzipatorisch wirken wollen,
  • Anschlussfähigkeit an feministische Projekte,
  • Beteiligung der User_innen an Orga-Design-Spielen, Mock-ups, Prototypen, Zukunftswerkstätten, Befragungen,
  • Projekte von „Frauen für Frauen“.

Der sogenannte Collective Resource Approach [Kraft & Ban 1994] als softwarentwicklungstechnisches Pendant zu obigem auf Arbeitssysteme allgemein angewendeten Ansatz, vereint Strategien und Techniken für Arbeitende, um die Entwicklung und den Gebrauch von Computeranwendungen am Arbeitsplatz beeinflussen zu können.

Bis heute stünde die Softwareentwicklung vor Herausforderungen, die aufgrund der sich ständig weiterentwickelnden sozio-wissenschaftlichen Erkenntnisse Forderungen laut werden lassen, neue Fakten in den Softwareentwicklungsprozess einfließen zu lassen:

  • Entwicklungsprozesse seien reduziert auf Cooperative Design [Greenbaum & Kyng 1991], also User-Interface-Design. Eine aktive Mitbestimmung bei Funktionalität, Umsetzung und Testen sollte erleichtert werden.
  • Gesellschaftstheoretische Weiterentwicklung sollten mehr berücksichtigt werden.
  • Geschlechtstheoretische Weiterentwicklung, wie De-/Konstruktion von Geschlecht und feministische Epistem(onto)logie sollten einfließen.
  • Software/IT wird nicht nur bei der Arbeit, sondern in allen Lebensbereichen eingesetzt, infolge sollten SE-Methoden auf die jeweiligen Anwendungsbereich angepasst werden.

Weitere kritische Ansätze seien zu finden bei

  • Narrative Transformation, Törpel 2000-03,
  • Mind Scripting, Hannappi-Egger 2006-08,
  • Design for Reflection (Senger et al 2005),
  • Sozial- und kulturwissenschaftliche “Laborstudien” aus feministischer Perspektive als Intervention/Engagement in Technikgestaltung nutzen (Weber/Bath 2006, Bath xxxx).

Diffractive Design

Nach dem historischen Abriss widmete sich Bath aktuellen Lösungsansätzen.

Als zeitgemäße Annäherung an das Problem bei der Mitbestimmung und Einflussnahme auf den Entstehungsprozess eines informatischen Artefaktes nannte Bath “Diffractive Design”.

Der Begriff Diffraction, aus der Optik entliehen, verweist auf die Zerlegbarkeit von Licht, dessen Erscheinung sich aus Wellen unterschiedlicher und veränderlicher Frequenzen zusammensetzt. Auch verweist der Begriff auf die Eingenschaft des Lichtes, zu streuen und so eine größere Fläche zu beleuchten.

In Analogie ist “Diffractive Design” gekennzeichnet durch die Vorstellung, dass Gruppen aus heterogenen, sich stetig in ihren Bedürfnissen und Eigenschaften wandelnden Stellvertretern (Agents) bestehen. Gruppen können daher nur durch eine Vielzahl von Grenzen definiert werden, die selbst verschiebbar bleiben müssen, um dieser Sichtweise gerecht zu werden.

Als Forderungen für “Diffractive Design” informatischer Artefakte formulierte Bath:

Dieser Ansatz sei geprägt davon, dass keinerlei Repräsentationsversuche bei der Modellierung der Artefakte stattfänden. Es sollte auch keine 1:1-Repräsentation der vermeintlichen Realität versucht werden.

Stattdessen fordere “Diffractive Design” einen kritischen und sensiblen Umgang mit Differenzen, ohne diese festzuschreiben. Eine Nichtfestschreibung ermögliche es, Wandlungsprozessen innerhalb der Agency gerecht zu werden.

Gefordert wird auch eine radikale, interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Technikentwickler_innen, Geschlechterforscher_innen und Gesellschaftstheoretiker_innen und damit eine Überlagerung von kritischen Ansätzen aus der Technikgestaltung, Geschlechterwissenschaften und feministischer (Wissenschafts-) Theorie sowie Gesellschaftstheorie.

Themen der Diskussion

  • Ist eine Modellierung des Sozialen möglich?
  • Wie kann man dynamische Artefakte entwickeln, die sich den sich wandelnden Bedürfnissen anpassen?
  • Falls für verschiedene Gruppen entwickelt werden sollte: Wer sind diese Gruppen, für die entwickelt wird?
  • Wie kann der Softwareentwicklungsprozess aufgebrochen werden, um User_innen teilhaben zu lassen?

Quellen

Barad, Karen. „Posthumanist Performativity: Toward an Understanding of How Matter Comes to Matter“. Signs: Jorunal of Women in Culture and Society 28, Nr. 3 (März 1, 2003): 801–831.

Bar-Cohen, Yoseph, und Cynthia L. Breazeal. Biologically Inspired Intelligent Robots. SPIE Press, 2003.

Breazeal, Cynthia L. Designing sociable robots. Cambridge, Mass.: MIT Press, 2002.

Crutzen, Cecile K. M., und Jack F. Gerrissen. „Doubting the OBJECT World“. In Women, Work and Computerization, herausgegeben von Ellen Balka und Richard Smith, 127–136. Boston/Dordrecht/London: Kulwer, 2000.

Greenbaum, Joan, und Morten Kyng, Hrsg. Design at Work: Cooperative Design of Computer Systems. Routledge, 1991.

Hofmann, Jeanette. „Über Nutzerbilder in Textverarbeitungsprogrammen – Drei Fallbeispiele“. In Technikgenese. Befunde aus einem Forschungsprogramm, herausgegeben von Meinolf Dierkes, 71 –99. edition sigma, 1997.

Hofmann, Jeanette. „Writers, Texts and Writing Acts – Constructed Realities in Word Processing Software“. In The Social Shaping of Technology, herausgegeben von Donald MacKenzie und Judy Wajcman, 222–243. England: Open University Press, 1999.

Kraft, Philip, und Jørgen Bansler. „The Collective Resource Approach: The Scandinavian Experience“. Scandinavian Journal of Information Systems 6, Nr. 1 (Januar 1, 1994). http://aisel.aisnet.org/sjis/vol6/iss1/4.

Oost, Ellen van. „Materialized Gender: How Shavers Configure the Users’ Femininity and Masculinity“. In How Users Matter. The Co-Construction of Users and Technology, herausgegeben von Nelly Oudshoorn und Trevor Pin, 193–208. Cambridge, Mass.: MIT Press, 2003.

Ortony, Andrew, Gerald L. Clore, und Allan Collins. The Cognitive Structure of Emotions. Cambridge University Press, 1990.

Oudshoorn, Nelly, Els Rommes, und Marcelle Stienstra. „Configuring the User as Everybody: Gender and Design Cultures in Information and Communication Technologies“. Science, Technology & Human Values 29, Nr. 1 (Januar 1, 2004): 30–63.